Texte
Michael Glasmeier
Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie fügt auch einige zu, indem sie sich in den Wunden festbeißt und wie ein Frettchen nicht locker lässt. Beschwichtigung fällt dann aus, und es kommt zu einem Kampf mit der Zeit. Sie lässt uns keine Ruhe und verlangsamt die Uhr trotzig. Diese Ungleichzeitigkeit der Zeit tritt am klarsten und lautesten in der Stadtlandschaft auf, im Wechsel von Aufbau und Abriss und ständiger Renovierungen. Zeitlos ist nur der brandneue Bau. Nach einem kurzen Augenblick, der meist 3 bis 5 Jahre dauert, beginnen dann die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung. Das Undichte wird gekittet, Bröckelnde geglättet, Fehlerhafte korrigiert: eine Reparatur ohne Ende, bis die Sache selbst zusammenklappt. Der Sinn des ganzen Unternehmens ist es, eine heile Zeit zur Show zustellen, wenn auch begleitet vom Lärm der Presslufthammer, um die nagende, gefährliche Zeit vorübergehend aus dem Auge und aus dem Sinn zu vertreiben. Deshalb wird in Berlin zur Zeit jedes Trümmergrundstück bebaut, jede kleine Straße verkehrsberuhigt.
Dem Künstler, der sich nicht anbiedert, ist das Heile kein Ort des Glücks, sondern des Widerstandes. Er versucht, dem überfallartigen Neuen zu entgehen, indem er bewusst jenseits der üblichen Trampelpfade tätig wird, die verlassenen, stellungslosen Stätten aufsucht und durch ästhetische Operationen wieder ins Bewusstsein bringt. Die Zahl der Künstler mit solchem Konzept nimmt zu. Doch bringt das Verlassen der Galerieräume keine neuen Einsichten, wenn aus Fabriketagen, Garagen usw. wieder nur Ausstellungsräume werden, wenn lediglich die Atelierarbeiten die Räume wechseln. Die Strategie im Umgang mit »anderen Räumen« geht erst auf, sobald diese Orte selbst zum Vorwurf und zum künstlerischen Objekt werden.
Einer der Künstler, die solchermaßen vor Ort arbeiten, ist Markus Kohn. Von der Malerei kommend, experimentiert er mit der Technik des Freskos und den damit verbundenen Problemen der Zeit, die mit der Konfrontation von Wand und Farbe zwangsläufig auftreten. Die physikalischen und chemischen Prozesse, wie beispielsweise die Farbe Blau auf verschiedenen Arten von steinernen Untergründen und Feuchtigkeit reagiert, sind für Kohn Anlässe ästhetischer Erfahrungen. Er greift in diese Prozesse nicht ein. Er initiiert sie und verlässt sich auf ihre eigene Dynamik wie Duchamps auf den Wind für das Geometriebuch, Yves Klein auf das Feuer, Manzoni auf das Wetter und Dieter Roth auf den Schimmel. Auf diese Weise büßt bei Kohn der blaue Maschinensockel seinen monochromen Charakter ein, und es wird langsam eine weiße Ecke im Block sichtbar. An die Wand gelehnte Steinplatten zerbröseln nach und nach. Ein blaues Band in einem Glaszylinder verliert – von einem Motor dazu getrieben – ständig in einer Flüssigkeit die Farbe, um nach diesem Bad wieder azuren zu leuchten.
Diese Junggesellenmaschine dramatisiert die Arbeitsweise Kohns. Nicht um fixe fixierte Bilder geht es ihm, also nicht um die heilende Zeit, sondern um den Zahn der Zeit. Er ist eigentlich ein umgepolter Restaurator, der die Prozesse des Verfalls, der Verwitterung, des Bröckelns und der Auflösung in Gang bringt und so aufzeigt. Nicht aus nostalgischen oder alternativen Gründen interessieren ihn daher vornehmlich verlassene Architekturen. Geschichtliche, abgestandene, feuchte Räume sind seinem Anliegen besonders zuträglich. Seine »Wandplastik« im »Standort« zeigt dieses besonders eindringlich.
Die Operation, die Kohn vornahm, war denkbar einfach und ökonomisch. Er machte auf seine Weise sichtbar, was in diesen großzügigen Kellerhallen ständig, scheinbar unsichtbar geschieht. Mit dem Bemühen, die ausgedienten Lagerräume für eine Kunst zu nutzen, die auf die besondere Situation und Architektur des Ortes eingeht, wurden diese leer geräumt und weiß gestrichen. Damit wurden zwar Elemente beseitigt, die für eine künstlerische Auseinandersetzung, für die eine Leere zunächst einmal zweckdienlich ist, erschweren könnten, doch der Raum ließ sich nicht ohne weiteres beruhigen. Widerspenstig machte sich die Zeit bemerkbar, setzte sich Feuchtigkeit immer wieder durch.
Im Gegensatz zu den Fresken der Renaissance, die im Laufe von Jahrhunderten verblassten und platzten und heute wieder aufwendig restauriert werden, sodass man, noch an ihre Patina gewöhnt, vor der neuen Farbgewalt erschrickt, ging in diesen Räumen der zerstörende Wechselprozess von Wand-Farbe-Feuchtigkeit rascher voran. Schon nach wenigen Tagen konnte man unter dem frischen Weiß wieder gelbe Flecken ausmachen.
Kohn legte nun auf 32 besonders feuchte Stellen und nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten eine rechteckige Schablone, befreite dort das Mauerwerk von allen früheren prozesshaften Eingriffen und überstrich es mit grauer Dispersionsfarbe. So setzte er die physikalischen und chemischen Reaktionen erneut in Bewegung, wies durch das sich absetzende Grau auf sie hin, indem er ihnen gleichsam einen Rahmen gab, und akzentuierte gleichzeitig die gesamte Architektur der Räume, deren Ecken, Wände, Kanten und Pfeiler durch die grauen, rechteckigen Formen pointiert wurden. Mit dieser lapidaren Geste können die Vorgänge passieren, weil sie wahrgenommen werden. Die Zeit und damit die Geschichte dringen durch die Poren der Wände. Farbe zersetzt sich, fällt ab und bildet auf dem Boden eng an der Mauer kleine Häufchen. Aus den Fugen sprießen die überraschendsten kristallinen Formen. Der Künstler lässt arbeiten. Mit dem Ausstellungsende ist der Prozess nicht abgeschlossen, wird aber so nicht mehr beachtet. Doch Kohn hat den Besucher sensibilisiert für die arbeitende Kraft der Zeit, für das Leben der Mauern und Wände, und das Blühen, Wachsen und Verfallen der Steine. Die Zeit fließt nicht. Kohn zeigt ihre stockenden, eruptiven Momente von Augenblick zu Augenblick. Und wir lernen, sie zu hören. Ab und an knistert in der scheinbaren Stille der Putz.
Literatur:
Roland Barthes: Michelet. Frankfurt a.M.1984
Roger Caillois: Steine. München/Wien 1983
Marie-Luise von Franz: Zeit. Strömen und Stille. Frankfurt a.M. 1981
Ulrich Giersch: Kunst im Rahmen von Zeit und Geschichte. In: Hans Haake: Nach allen Regeln der Kunst. (Kat.) Berlin/Bern 1984/85
Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Frankfurt a.M. 1973
Yves Klein: (Kat.) Berlin/Düsseldorf
George Kubler: Die Form der Zeit. Frankfurt a.M. 1982
Angelika Overath: Azurne Scherben. In: Merkur 6 (1984)
Paul Philippot: Die Wandmalerei. Wien/München 1972
Prozesse (physikalische biologische chemische). (Kat.) Bonn 1978
Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt a.M. 1981
Heinz Thiel: Der Zweifel am Raum ist unbegründet. In: Kunstforum international 3-4 (1984)